Teil I (Vortrag)

Prüfungsthema: Ungleichheit im Nahen Osten

Aufgabenstellung

Der französische Wirtschaftswissenschafter Piketty bezeichnet den Nahen Osten als ‚die Region mit der größten Ungleichheit weltweit‚ und bezieht sich dabei vor allem auf das Einkommen der Menschen. Doch auch in anderen Bereichen herrscht in der Region keine Homogenität vor.

  1. Erläutern Sie die Bevölkerungsverteilung im dargestellten Kartenausschnitt (M 1).
  2. Erklären Sie, inwieweit durch die Analyse von Bevölkerungspyramiden Rückschlüsse auf den Entwicklungsstand eines Landes möglich sind (M 2, M 3).
  3. Überprüfen Sie Pikettys Aussage.

Material

Neben dem Atlas werden folgende Materialien zur Verfügung gestellt:

M 1 Bevölkerungsdichte im Nahen Osten

Quelle: verändert nach Diercke-Weltatlas (2021)

M 2 HDI von Ländern im Nahen Osten

Quelle: Kartenausschnitt, erstellt bei webgis.sachsen.schule (2021)

M 3 Bevölkerungspyramiden von Jemen, Irak und Saudi-Arabien

PopulationPyramid.net, CC BY 3.0 IGO

Bemerkungen und Erwartungsbild

Zunächst solltest du den Raum lokalisieren. Wenn sich in dem Prüfungsraum eine Karte befindet, kannst du den Raum dort zusätzlich zeigen. Ich möchte an dieser Stelle gleich ein paar Begriffe klären, die häufig verwendet werden, aber nicht immer klar sind. Das musst du in deiner Prüfung so detailliert nicht tun.

Der Nahe Osten ist eine Bezeichnung, die die arabischen Staaten Vorderasiens (und Israels) einschließt. Vorderasien meint Südwestasien. Zum Nahen Osten gehören damit die Arabische Halbinsel und die Region des sogenannten Fruchtbaren Halbmondes. Teile der Türkei, Ägyptens und vom Iran werden häufig ebenso dem Nahen Osten zugeschrieben.

Wem der Begriff des Fruchtbaren Halbmonds nicht neu ist, der wird bei Aufgabe 1 schon einige Ideen haben:

Aufgabe 1: Erläutern Sie die Bevölkerungsverteilung im dargestellten Kartenausschnitt (M 1).

Das Thema Bevölkerungsverteilung wird im Lernbereich 7 (Lehrplan Sachsen) aufgegriffen.

Der Operator Erläutern wird dem Anforderungsbereich II zugeordnet. Er verbindet das Beschreiben (Anforderungsbereich I) und Erklären (Anforderungsbereich II) zu einem Operator, es müssen dabei Sachzusammenhänge mit Hilfe von Informationen verdeutlicht werden.

Es kann in dieser Aufgabe unterschiedlich herangegangen werden. Entweder nennt man Einflussfaktoren auf die Bevölkerungsverteilung und zeigt in der Karte M 1 Beispiele auf oder man beschreibt die Bevölkerungsverteilung und zeigt dann mögliche Einflussfaktoren dafür auf.

Betrachtet man die Karte, fällt grundsätzlich eine höhere Bevölkerungsdichte an den Küsten auf. Dies wird oft mit der Besiedlung, mit wirtschaftlichen Faktoren (Handelsrouten) oder dem Zugang zu Wasser begründet. In diesem Fall kommt noch die Verfügbarkeit von Erdöl, bspw. im Persischen Golf hinzu, die zu einer Bevölkerungskonzentration führen.

Im Inneren der Halbinsel ist durch eine geringere Bevölkerungsdichte gekennzeichnet. Die klimatischen Bedingungen (Wüstenklima) bedingen Wassermangel und damit eine schlechte landwirtschaftliche Nutzbarkeit. Die Wendekreiswüsten dominieren das Landschaftsbild, größere Siedlungen bilden eine Ausnahme.

In gebirgigen Regionen (z. B. Zagros-Gebirge oder Hochland von Asir) wiederum, sind durchaus etwas höhere Bevölkerungsdichten zu finden. Der Einfluss der Höhenlage auf Klima und Wasserverfügbarkeit ist hier erkennbar.

Das Gebiet des „Fruchtbaren Halbmonds“, welches vom Zweistromland halbkreisförmig bis Ägypten reicht, ist eine etwas höhere Bevölkerungsdichte vorzufinden. Vor allem das Vorkommen von Wasser (in Flüssen wie Nil, Jordan, Euphrat und Tigris) machen eine landwirtschaftliche Nutzbarkeit möglich. Der Einfluss des subtropischen Klimas mit Winterregen wird dabei deutlich. Landwirtschaftlich geprägte Regionen neigen zur Bevölkerungsdispersion.

Das sogenannte Zweistromland als „Wiege der Menschheit“ bedingt auch historisch-kulturell Siedlungen und damit eine höhere Bevölkerungsdichte.

Arbeit am Material (N. Beyer, 2021)
Aufgabe 2: Erklären Sie, inwieweit durch die Analyse von Bevölkerungspyramiden Rückschlüsse auf den Entwicklungsstand eines Landes möglich sind (M 2, M 3).

Der Operator „Erklären“ wird in der Regel dem Anforderungsbereich II zugeordnet. Begründungszusammenhänge, Voraussetzungen und Folgen bestimmter Strukturen und Prozesse sind darzulegen. In der Aufgabe bezieht sich dies auf Rückschlüsse und Beziehungen zwischen Bevölkerungspyramiden (auch Alterspyramide, Altersstrukturdiagramm oder Bevölkerungsdiagramm genannt – der Begriff „Pyramide“ ist aufgrund der von einer Pyramide oft abweichenden Form teilweise irreführend). Bei der Erklärung kann unterschiedlich vorgegangen werden. So besteht einerseits die Möglichkeit über die gegebenen Materialien einen Bezug zwischen dem Human Development Index (HDI) und den Bevölkerungspyramiden von Jemen, Irak und Saudi-Arabien herzustellen und dann auf Besonderheiten einzugehen. Andererseits bietet sich auch eine Verknüpfung mit dem Modell des demographischen Übergangs an, welches die Entwicklung der Geburten- und Sterberaten darstellt und in gewissen Maßen Vermutungen zum Entwicklungsstand erlaubt. Eine detaillierte Auswertung der drei Bevölkerungsdiagramme ist in der Aufgabenstellung nicht vorgesehen, dennoch sollten Besonderheiten herausgestellt werden.

Zunächst ist auffällig, dass der HDI der in den Bevölkerungspyramiden dargestellten Länder sehr unterschiedlich ist. Jemen weißt mit einem HDI von 0,55 einen sehr geringen HDI auf, Irak einen mittleren und für Saudi-Arabien wurde ein HDI von über 0,8 ermittelt. Der HDI ist dabei ein Maß für die menschliche Entwicklung einer Region und berechnet sich aus: Lebenserwartung bei der Geburt, das Bildungsniveau sowie das Pro-Kopf-Einkommen. Insbesondere die Lebenserwartung lässt eine gewisse Korrelation zur Bevölkerungsentwicklung vermuten. Der Irak und besonders auch Jemen sind Länder, die in verschiedene Konflikte verwickelt waren bzw. sind.

Weiterhin weißen die Bevölkerungsdiagramme unterschiedliche Formen auf. In Jemen ähnelt es der Pagodenform, dies ist eine Pyramide mit verbreiterter Basis. Bei steigender Lebenserwartung und sinkender Sterberate, sinkt die Geburtenrate nur langsam. Im Modell des demographischen Übergangs befindet sich Jemen am Ende der frühtransformativen Phase. In der Bevölkerungspyramide vom Irak ist im schon eine deutlichere Stagnation an der Basis erkennbar, typisch für eine deutlich gesunkene Geburtenrate. In einigen Jahrzehnten wäre bei vergleichbarer Geburten- und Sterberate eine Bienenkorbform denkbar. Eine besondere Bevölkerungspyramide weißt Saudi-Arabien auf. Zunächst schien die Entwicklung in Richtung Bienenkorb- oder Urnenform zu erfolgen. Die breiter werdende Basis (ähnlich wie in der Glockenform) und der deutliche Männerüberschuss (bei Männern im arbeitsfähigen Alter, vor allem durch Arbeitsmigration), lassen eine einfache Einordnung nicht zu. Im Modell des demographischen Übergangs kann Saudi-Arabien daher in der posttransformativen Phase eingeordnet werden, wenngleich die Bevölkerungsstruktur sich von der in anderen entwickelten Ländern unterscheidet.

Modell des demographischen Übergangs, dargestellt mit ausgewählten Bevölkerungspyramiden (N. Beyer, 2021)

Oft folgen die Geburten- und Sterberaten einzelner Länder dem Modell des demographischen Übergangs. Für viele heutige Industrieländer kann der Prozess von hoher zu niedriger Geburten- und Sterberate nachgezeichnet werden. Doch sowohl Dauer als auch Verlauf an sich weichen in einzelnen Regionen der Welt teilweise stark davon ab. So finden sich in der spät- und posttransformative Phase durchaus gegensätzliche Prozesse statt (Umkehr, zweiter demographischer Übergang, …). Insgesamt lassen sich in vielen Fällen trotzdem Bezüge zwischen Entwicklungsstand und Bevölkerungspyramide herstellen.

Aufgabe 3: Überprüfen Sie Pikettys Aussage.

Der französische Wirtschaftswissenschafter Piketty bezeichnet den Nahen Osten als ‚die Region mit der größten Ungleichheit weltweit‚ und bezieht sich dabei vor allem auf das Einkommen der Menschen.

nach Thomas Pony auf Heise Online, 2017

Der Operator „Überprüfen“ kann dem Anforderungsbereich III zugeordnet werden. Dabei sind vorgegebene Aussagen bzw. Behauptungen oder Darstellungsweisen an konkreten Sachverhalten auf ihre innere Stimmigkeit und Angemessenheit hin untersuchen. In Aufgabe 3 sollt dies mit der Aussage des Wirtschaftswissenschaftlers Piketty geschehen. Zur Vorgehensweise: Es bietet sich an, eine Arbeitsdefinition für Ungleichheit zu formulieren und dann ausgewählte Indikatoren für Ungleichheit zu suchen und zu vergleichen. Je nach Ergebnis kann dann die Aussage gestützt, relativiert oder dementiert werden.

Ungleichheit gibt es in nahezu allen Bereichen. Für die Aufgabe von Interesse soll vorrangig der Entwicklungsstand bzw. das Einkommen der Menschen sein – also wirtschaftliche Indikatoren.

So können alle Indikatoren des Entwicklungsstands können Ungleichheiten zwischen einzelnen Staaten oder Regionen aufdecken, von typisch wirtschaftlichen Indikatoren wie dem BNE, BIP/Kopf oder der Wirtschaftsstruktur, bis hin zu übergeordneten Indikatoren wie dem HDI. Der Blick in M 2 deutet auf große Unterschiede zwischen einzelnen Staaten des Nahen Ostens hin, der HDI von Jemen (gering) und von Saudi-Arabien (sehr hoch) sind sehr augenfällig. Ein Blick auf geeignete Atlaskarten bestätigt dieses Bild (z. B. BNE, Armut Diercke-Weltatlas). Ähnliches Bild ergibt sich auch bei anderen Indikatoren. Der Blick auf die Weltkarte zeigt, dass diese starken Gegensätze zwischen benachbarten Staaten in anderen Regionen der Welt nicht oder nicht in diesem Ausmaß auftreten. Diese Tatsache stützt Pikettys Aussage.

Für die Ungleichheit innerhalb eines Landes werden weitere Indikatoren verwendet. Für die wirtschaftliche Ungleichheit z. B. der Gini-Koeffizient, für die soziale Ungleichheit z. B. Global-Gender-Gap-Index und als übergeordneter Indikator der iHDI. Eine Atlaskarte zur Vermögensverteilung (z. B. im Diercke-Weltatlas) zeigt weltweit mehrere Regionen mit hoher Ungleichverteilung des Einkommens (u.a. Brasilien, USA, Indonesien). Südamerika und Südafrika sind Regionen mit einem sehr hohem Gini-Koeffizient. Dieses Phänomen ist also anscheinend nicht allein für den Nahen Osten typisch. Wenn im Atlas (oder Material) Zahlen zum Gender-Gap-Index verfügbar sind, kann auch dieser thematisiert werden. Denn bei diesem ragt der Nahe Osten negativ heraus. Die Gleichstellung der Geschlechter in verschiedenen Bereichen ist hier am schlechtesten, die Ungleichheit damit am höchsten.

Map of countries by quintile ranking in the World Economic Forum Global Gender Gap Report 2020 (Jerome Taylor)

Auf weitere Bereiche, in denen Ungleichheit auftreten kann, soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Dazu gehören bspw. naturgeographische Voraussetzungen (Geofaktoren: Klima, Wasser, Geologischer Bau, Boden, Relief, Bios) oder die Bevölkerungsstruktur, die wiederum Ungleichheit auf anderen Ebenen bedingen.

Insgesamt wird durch die verfügbaren Zahlen Pikettys Aussage gestützt. Die Ungleichheit innerhalb der Staaten als auch zwischen den Staaten der Region ist sehr hoch. Dennoch sind derartige Superlative („am größten“) mit Vorsicht zu formulieren, denn nicht immer liegen für jeden Staat zuverlässige und aktuelle Daten vor; und weiterhin sollte eine Präzisierung hinsichtlich der Definition von Ungleichheit erfolgen.

Weitere Informationen

  • Eine sehenswerte Seite zum Thema Ungleichheit mit spannenden Einblicken in die Lebensumstände von Familien der Welt ist https://www.gapminder.org/dollar-street.
  • Auf den Seiten des Bundesministerium für politische Bildung gibt es interessante Portraits der in Jemen und Irak herrschenden Konflikte. In diesem Zusammenhang sind auch die Seiten des Auswärtigen Amtes einen Blick wert. Saudi-Arabiens Verwicklungen und die Besonderheiten, nicht nur bei Reisen in den Arabischen Raum, können dabei entdeckt werden.